Kürzlich war ich eher zufällig zu Besuch bei einem netten älteren Herrn. Ich sollte nur etwas vorbeibringen, verließ aber erst vier Stunden später das Haus. Bruchteile seiner Geschichte möchte ich euch von Zeit zu Zeit erzählen.
Herr J. (Name geändert) war von 1943 – 1948 in französischer Kriegsgefangenschaft in Afrika, wo er auch im Krieg war. Die Franzosen sagten, dass sie die deutschen Gefangenen nicht nach Europa holen können, weil sie ihre Schiffe zerstört haben. Noch während der Gefangenschaft wurde Herr J. befördert, was bei Berufssoldaten unabhängig von Verdiensten in bestimmten Zeiträumen der Fall war. Später kam ein Angebot der Franzosen: Gefangene könnten sich freiwillig melden, um zum centre d’etudes nach Frankreich zu fahren. Letztendlich ging es um eben jene Demokratisierungskurse, die auch die anderen Kriegsgegner Deutschlands nach dessen Kapitulation durchführten.
Im centre d’etudes schlug man vor, Prof. Guardini einzuladen, der gerade ohnehin an der Pariser Sorbonne zu tun hatte. Als dieser in einem großen Raum vor den vielen Nazi-Offizieren und Soldaten stand, fragte er: „Was soll ich erzählen?“ Wie zu erwarten war, kamen keine Vorschläge. Also erklärte er in demütiger, freundlicher Haltung: „Ich werde nun über eines der schwersten Themen sprechen: über Gottes Offenbarung. Wenn jemand anderer Meinung ist oder sich damit unwohl fühlt, kann er gern den Raum verlassen. Ich werde es niemandem übel nehmen.“ Er sprach nun über die Dreieinigkeit und Jesus – und alle blieben. Nach Ende des Vortrags musste er sogleich zu einem anderen Termin, sodass es keine Gesprächsmöglichkeit mehr gab. Aber Herr J. erzählt, dass die Gespräche in den Gruppenunterkünften umso länger waren. Alle waren tief von ihm beeindruckt. „Er hätte mit einem Taufbecken rumgehen können“, kommentiert Herr J. das Geschehen. Jahre später trifft er ihn wieder und berichtet Herrn Guardini, was seine Rede bewirkt hat. Dieser staunt und sagt: „Ich hatte solche Angst“.
1948 werden die Gefangenen freigelassen. Mit einem Personenzug (bisher fuhren sie nur im Güterwagen) brachte man sie in ein kleines Nest oberhalb von Berlin (?). Plötzlich entfernten sich die Aufseher im Zug: Sie waren frei zu gehen, wohin sie wollten. Vom Bahnhof aus konnten sie in den Ort im Tal blicken: Ein Weihnachtsbaum leuchtete dort und gerade schlug die Turmuhr Mitternacht (es war Neujahr), da machten Leute Türen und Fenster auf. Sie luden die Freigelassenen zu sich ein, tranken und aßen mit ihnen. Auf der anderen Seite des Tals befand sich der Sitz der Amerikaner. Dort konnten sich die Freigelassenen Zahnbürsten und -pasta abholen und auch Fahrkarten in ihre Heimat. Herrn J.s Familie lebt in Chemnitz, also im Ostblock. Doch er wurde von seiner Familie gewarnt, nicht dorthin zu fahren. Der Grund: Er weiß, wie es Herrn S. erging. Beide treffen sich später in München wieder.
Herr S. war ebenfalls Offizier im Krieg und kam in brittische Kriegsgefangenschaft. Er wurde früher freigelassen als Herr J, denn „die konnten nicht sagen: Ihr habt unsere Schiffe zerstört“, erklärt Herr J. Die Freilassung erfolgte in Ostberlin. Seine Familie sah Herrn S. kurz am Bahnhof, wo alle Gefangenen ausstiegen und die Briten wieder fuhren. Nun befahlen die sowjetischen Offiziere, dass die gerade Freigelassenen sich sortieren sollten: Nach Soldaten, Unteroffizieren und Oberoffizieren. Die ersteren beiden durften gehen, wohin sie wollten. Die Oberoffiziere aber, zu denen Herr S. gehörte, mussten wieder in einen Zug mit unbekanntem Ziel steigen. Die Fahrt ging bis ins tiefste Russland. Dort kam es nie zu einem Verhör oder Ähnlichem. Man wurde gefangen gehalten und musste Zwangsarbeit verrichten.
Dieser Zustand dauerte an, bis Konrad Adenauer 1955 nach Moskau reiste . Herr J. erzählt übrigens, Adenauer hätte den deutschen Zug nie verlassen, weil er den Sowjets so sehr misstraute – allerdings klingt das in anderen Berichten deutlich anders. Die Sowjets sagten (so berichtet er), dass sie keine Kriegsgefangenen mehr hätten – nur noch Kriegsverbrecher. Doch etwas später werden sie freigelassen. Laut offiziellen Berichten zur Moskaureise Adenauers fand die Freilassung in Friedland statt, Herr J. jedoch spricht von Ostberlin. Dort riefen die gerade Freigelassenen tagelang: „Wir wollen nach Westberlin! Wir wollen nach Westberlin!“, woraufhin Russland etwas später nachgibt.
Herr S. lebte später wie Herr J. in München. Bei seiner Freilassung musste er unterschreiben, dass er nie wieder eine Waffe in die Hand nähme. Dennoch fand man in später im Dienst der Bundeswehr. Er starb an Herzversagen.
Zeitzeugenberichte sind selbstverständlich subjektive Erinnerungen, die auch etwas verklärt sein können. Dennoch sind sie für uns wichtige Anhaltspunkte und immerhin Erzählungen aus erster Hand. Solange werden wir die Möglichkeit nicht mehr haben, die Erlebnisse noch von Zeitzeugen geschildert zu bekommen – wir sollten sie nutzen. Zeitzeugenberichte kann man nachlesen und ansehen, aber direkt berichtet verschafft es einen noch größeren Eindruck.
[…] gibt es da die Dauerbrenner wie Rassismus und Islam in den Medien, es gibt Zeitzeugenberichte aus dem Krieg und andere Blickwinkel auf “die Bösen” anhand der Bandidos, es gibt lachen und weinen […]